Grundprüfungsschema für unechte Unterlassungsdelikte (§ 13 StGB): Bestraft wird für ein Unterlassen nur bei Garantenstellung, also wenn der Täter die Pflicht hatte, den eingetretenen Schadenserfolg abzuwenden.
Während echte Unterlassungsdelikte bereits in ihrem Tatbestand ein Unterlassen unter Strafe stellen und somit jedermann adressieren (z.B. 323c StGB), ist bei unechten Unterlassungsdelikten ein Unterlassen nicht im Tatbestand angelegt, sondern nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des § 13 StGB strafbar, sodass der Täter Garant sein muss.
Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs.
Unterlassen = Nichtvornahme der zur Erfolgsabwehr gebotenen Handlung trotz physisch-realer Abwehrmöglichkeit
Wonach erfolgt die Abgrenzung Tun (Begehungsdelikt) / Unterlassen (Unterlassungsdelikt)?
h.M.: Nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit
Wann wird beim versuchten Unterlassungsdelikt unmittelbar angesetzt?
e.A.: Verstreichenlassen der ersten Rettungsmöglichkeit
(con) Systematik: Vorverlagerung der Strafbarkeit.
a.A.: Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit
(con) Systematik: starke Verlagerung nach hinten, da Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit in den meisten Fällen bereits zur Vollendung führt (dann vollendete Vorsatztat, aber kein Anwendungsbereich für Versuch).
h.M.: Rechtsgut ist konkret gefährdet
Das Rechtsgut ist i.d.R. konkret gefährdet, wenn der Täter nach seiner Vorstellung den Geschehensablauf und damit jede Rettungsmöglichkeit aus der Hand gibt.
(pro) Vermittelnde Ansicht; keine übermäßige Verlagerung der Strafbarkeit in die eine oder andere Richtung.
Die Vorwerfbarkeit des Unterlassens setzt eine Handlungspflicht voraus. Diese ergibt sich aus der Garantenstellung.
Garant = Person, die rechtlich dafür einzustehen hat, dass ein bestimmter Erfolg nicht eintritt.
Der Beschützergarant hat sich vor den zu Beschützenden zu stellen (Obhutspflicht).
Natürliche (familiäre) Verbundenheit
z.B. Eltern für Kinder (s. § 1626 I, 1631 I BGB), Ehegatten füreinander (s. § 1353 I BGB), Geschwister
Enge Lebens- / Gefahrengemeinschaft
z.B. nichteheliche Lebensgemeinschaft, Bergsteiger
Stellung als Amtsträger oder Organ juristischer Personen
z.B. Jugendhilfe, GmbH‑Geschäftsführer
Tatsächliche, freiwillige Übernahme von Schutzpflichten
z.B. Babysitter, Arzt nach Behandlungsübernahme
Überwachungsgarant
Der Überwachergarant hat sich vor die Gefahrenquelle zu stellen (Sicherungspflichten).
Tatsächliche, freiwillige Übernahme von Sicherungspflichten
z.B. Hundesitter
Sachherrschaft über eine Gefahrenquelle
z.B. Betreiber einer Fabrik
Verantwortung für rechtswidriges Verhalten Dritter
z.B. Eltern für (Klein-)Kinder
Ingerenz = vorangegangenes (pflichtwidriges) gefahrbegründendes Verhalten des Täters selbst, das die nahe Gefahr des Erfolgseintritts schafft
Nur, bei schadensnahem Vorverhalten; wenn also Vorverhalten die Gefahr des konkret untersuchten Deliktes mit sich bringt. Dies wird bei Verletzung von Rechtsnormen, die das betroffene Rechtsgut schützen, regelmäßig angenommen.
Beispiele:
Autofahrer fährt durch Fahrlässigkeit Fußgänger an und verletzt diesen schwer → Pflicht für Rettung zu sorgen
Nicht, wenn A bei B einbricht und auf der Flucht entdeckt, dass B ohne Kenntnis des Einbruchs einen Herzinfarkt erleidet und ihm nicht hilft. → Einbruch begründete nicht die Gefahr des Herzinfarktes, ggf. nur unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) als echtes Unterlassungsdelikt; aber nicht etwa Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB).
Ist eine Garantenstellung aus Ingerenz auch bei rechtmäßigem Vorverhalten möglich?
Beispiele: T schlägt O in Notwehr (§ 32 StGB) nieder und lässt ihn in der Kälte erfrieren; T fährt trotz Einhaltung der Verkehrsregeln O an und lässt ihn schwer verletzt zurück; T rettet sein Leben durch einen Sprung aus dem brennenden Haus und verletzt die unten stehende O.
h.M.: Ingerenz nur bei pflichtwidriger Gefahrverursachung
(pro) Wortlaut des § 13 I StGB; nur wer "rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt"
(pro) Systematik: Strafbarkeit wg. unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) erfasst regelmäßig den Unrechtsgehalt; in Notwehrfällen ist die Herbeiführung dem Notwehropfer selbst anzulasten.
a.A.: Ingerenz auch bei nicht pflichtwidriger Gefahrverursachung
(pro) Gefahrabwendungspflicht ergibt sich bereits aus Verursachung, nicht aus Pflichtwidrigkeit.
a.A.: Unterscheidung nach Rechtfertigungsgründen; keine Ingerenz bei Notwehr (§ 227 BGB, § 32 StGB), aber bspw. bei rechtfertigendem Notstand (§§ 228, 904 BGB, § 34 StGB)
(pro) Systematik: Anders als bei der Notwehr ist dem Opfer seine Schädigung bei rechtfertigendem Notstand regelmäßig nicht selbst anzulasten.
(pro) Systematik: Schadensersatzpflicht bei Notstand (§§ 228 S. 2, 904 S.2 BGB) zeigt, dass Schädiger hier - anders als bei Notwehr (§ 227 BGB) - für die Folgen seiner Handlung einzustehen hat.
(Quasi-)Kausalität bei Unterlassungsdelikten: Ein Unterlassen ist kausal für den eingetretenen Erfolg, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden, ohne dass der Erfolg ...
h.M.: ... mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.
a.A.: ... weniger wahrscheinlich wäre.
Nach welchem Maßstab bestimmt sich die Kausalität bei Unterlassungsdelikten (rechtmäßiges Alternativverhalten)?
h.M: Vermeidbarkeitstheorie
Kausalität nur, wenn der eingetretene Erfolg bei gebotener Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre (= täterfreundlicher).
(pro) Systematik: Grundsatz in dubio pro reo erfordert, die Kausalität bei Zweifeln zu verneinen; § 13 StGB soll Erfolgsdelikte nicht zu Gefährdungsdelikten umfunktionieren.
Hinweis: Das gleiche Problem stellt sich auch bei Fahrlässigkeitsdelikten, wird dort jedoch i.d.R. im Rahmen der objektiven Zurechnung diskutiert - siehe das Grundschema: Fahrlässiges Begehungsdelikt (§ 15 Var. 2 StGB).
Beim Unterlassungsdelikt wird auf das Merkmal „in seiner konkreten Gestalt“ bei der Kausalitätsprüfung verzichtet. Andernfalls wäre der Täter auch dann strafbar, wenn er den Erfolg nicht abwenden, aber durch einen anderen ersetzen könnte.
Beispiel: Der Vater kann seine Kinder nicht aus dem brennenden Haus retten, könnte sie aber durch einen tödlichen Wurf aus 6m Höhe vor dem Feuertod bewahren (Brandrettungsfall, BGH JZ 1973, 173).
Umstritten ist, ob bei unechten Unterlassungsdelikten eine objektive Zurechnung gesondert zu prüfen ist.
Wenn sich Strafbarkeit nicht allein durch Erfolgsverursachung ergibt, muss Unterlassen der Verwirklichung des Tatbestandes entsprechen.
Mindestens bedingter Vorsatz / Eventualvorsatz (dolus eventualis) bzgl. des obj. Tatbestandes einschließlich der Umstände, die die Garantenstellung begründen und der Rettungsmöglichkeit
Die Handlungspflicht muss hingegen nicht vom Vorsatz erfasst sein.
Prüfung der allg. Rechtfertigungsgründe. Siehe hierzu die Übersicht: Rechtswidrigkeit und Schuld im Strafrecht.
Spezifisch bei den Unterlassungsdelikten ist zu prüfen, ob eine rechtfertigende Pflichtenkollision vorliegt:
Objektive Voraussetzung
Kollision mehrerer gleichrangiger Handlungspflichten, von denen der Täter nur einer nachkommen kann.
Str. ob auch bei gleichwertigen Rechtsgütern, aber unterschiedlicher Pflichtenstellung einschlägig: z.B. Rettung des Freundes (wg. § 323c StGB) vs. Rettung der Ehefrau (wg. § 13 I StGB).
Subjektive Voraussetzung
Kenntnis der rechtfertigenden Situation.
Schuld bezeichnet die persönliche Vorwerfbarkeit der Unrechtsverwirklichung. Diese wird grundsätzlich angenommen. Siehe für die allg. Fälle, in denen sie entfällt (Schuldunfähigkeit, entschuldigende Irrtümer und Entschuldigungsgründe) die Übersicht: Rechtswidrigkeit und Schuld im Strafrecht.
Spezifisch bei Unterlassungsdelikten ist nach h.M. als ungeschriebener Entschuldigungsgrund die (Un-)Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zu untersuchen. Dies erfolgt im Rahmen einer Gesamtabwägung zwischen ...
eigenen billigenswerten Interessen, die durch Erfüllung der Handlungspflicht gefährdet sind und
zu befürchtenden Rechtsguteingriffen auf Opferseite
Bsp.: T rettet ihren Freund statt ihrer Schwester, für die sie garantenpflichtig ist, aus dem brennenden Haus