Prüfungsschema für das Deutschengrundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) zum Schutz der kollektiven Meinungsbildung oder ‑äußerung in Form des Sich-Versammelns als Abwehrrecht der Bürger gegen den Staat.
Der Schutzbereich umfasst lediglich friedliche Versammlungen ohne Waffen. Versammlungen unter freiem Himmel stehen wegen des Wortlautes des Art. 5 III GG unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt.
Dieses Schema bildet die klassische abwehrrechtliche Dimension der Versammlungsfreiheit in Form des Schutzes vor staatlichen Eingriffen ab.
Spezifisch in Bezug auf die Versammlungsfreiheit sind aber auch die Dimensionen der staatlichen Schutzpflicht (insb. in Form des Schutzauftrags vor Störungen Dritter wie Gegendemonstranten) sowie die Ausstrahlungswirkung auf Rechtsverhältnisse Privater untereinander (sog. ‚mittelbare Drittwirkung‘ z.B. auf das privatrechtliche Hausrecht gem. § 903 S. 1, § 1004 BGB) stark ausgeprägt.
Es handelt sich ausweislich des Wortlautes („alle Deutschen") um ein ‚Deutschengrundrecht‘ (auch ‚Bürgerrecht‘). Siehe hierzu ausführlich die Übersicht: Persönlicher Schutzbereich von Deutschengrundrechten (Art. 116 I GG).
Deutsche
Der persönliche Schutzbereich ist daher grds. auf Deutsche beschränkt. Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, insb. wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (Art. 116 I GG).
EU-Ausländer
Können sich EU-Ausländer auf die Deutschengrundrechte berufen?
e.A.: (+) Ja
(pro) Systematik: Art. 18 I AEUV verbietet innerhalb der Europäischen Union die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.
h.Lit.: (-) Nein, aber Art. 2 I GG fungiert in angereicherter Form als Auffanggrundrecht
Anwendung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) als Auffanggrundrecht aber unter Übernahme der Spezifika des sonst einschlägigen Grundrechts (z.B. besondere Schranken-Schranken wie etwa Drei-Stufen-Theorie der Berufsfreiheit) mit also im Ergebnis gleichem Schutzniveau.
(pro) Wortlaut: Deutschengrundrechte gelten dem Wortlaut nach nur für Deutsche i.S.d. Art. 116 I GG; Systematik: Auch so im Ergebnis, ob des gleichen Schutzniveaus keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 18 I AEUV.
Juristische Personen können sich unter den Voraussetzungen des Art. 19 III GG (siehe das Schema dort) grds. auf Art. 8 GG berufen.
Beispiele: Vereine, Parteien oder Gewerkschaften als Veranstalter oder Organisatoren von Versammlungen
Versammlung =
Formvielfalt
Der Schutzbereich ist nach Ansicht des BVerfG nicht auf Versammlungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasstvielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.
z.B. sind auch Versammlungen: die „Fuckparade" als Demo u.a. gegen die Verdrängung spezifischer Techno-Stile und die Kommerzialisierung der Loveparade, auch wenn dort Musik und Unterhaltung zentrale Elemente sind.
Geschützt ist hingegen eine symbolische Verhinderung, die nicht Selbstzweck, sondern ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung des Protests ist. Sie dient damit der Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit.
z.B. Blockade einer einzelnen Braunkohleabbaustätte im Kampf gegen die Klimakrise
Friedlich = Versammlung nimmt keinen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf und ein solcher steht auch nicht unmittelbar bevor (so daher auch der einfachrechtliche § 5 Nr. 3 BVersG)
Aufrührerisch = aktiver gewaltsamer Widerstand durch körperliche Einwirkungen auf rechtmäßig handelnde Vollstreckungsbeamte
Gewalttätig =
e.A.: strafrechtlicher Gewaltbegriff wie etwa bei § 240 StGB
BVerfG (verfassungsautonome Auslegung): Handlungen von einiger Gefährlichkeit
z.B. aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen
Waffe = Waffe im technischen Sinne (h.M. sowie sonstige gefährliche Werkzeuge, die zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet und bestimmt sind)
Keine Waffen sind z.B. reine Schutzgegenstände wie Schilder oder Protektoren
Umfasst vom Schutzbereich ist nicht nur die Durchführung der eigentlichen Versammlung, sondern auch die gesamte Vorbereitung sowie An- und Abreise.
Vorbereitung und Organisation sind jedoch keine zwingenden Voraussetzungen für den Schutz, sodass auch ohne Einladung durch aktuelle Anlässe ausgelöste sog. Spontanversammlungen geschützt sind.
Öffentlicher Ort = Ein entsprechend dem Leitbild des öffentlichen Forums dem allgemeinen öffentlichen Verkehr geöffneter Ort öffentlicher Kommunikation
z.B. öffentliche Straßen und Plätze, aber auch privatrechtlich betriebene öffentliche Kommunikationsräume in mehrheitlich öffentlicher Hand wie Flughäfen oder Bahnhöfe
Auch Veranstaltungen in (eigenen) privaten Räumen sind vom Schutzbereich umfasst – was sich aus einem Umkehrschluss aus dem einfachen Gesetzesvorbehalt für Versammlungen „unter freiem Himmel" ergibt (s.u). Es besteht eben nur kein Anspruch auf Zugang zu fremden Privaträumen.
Umfasst vom Schutzbereich ist nicht nur die „ortsfeste" Zusammenkunft, sondern z.B. auch Demonstrationszüge etc.
Nicht umfasst sind nach h.M. jedoch rein virtuelle Versammlungen (str., Problembox)
Erfasst der Schutzbereich rein virtuelle Versammlungen (‚Onlinedemonstrationen‘)?
h.M.: (–) Nein
(pro) Wortlaut: „sich versammeln" erfordert physische Präsenz; „alle Deutschen" impliziert körperlichen Bezug; Systematik: Schutzbereichseingrenzung „unter freiem Himmel" in Abs. 2 impliziert physischen Bezug; Telos: Die Gefahr staatlicher Eingriffe stellt sich bei virtuellen Versammlungen weniger, da die meist in privaten Netzwerken stattfinden.
a.A.: (+) Ja
(pro) Wortlaut: „sich versammeln" kann man nach heutigem Sprachverständnis auch online; Systematik: „unter freiem Himmel" wird auch nicht wörtlich ausgelegt und maßgeblich ist nicht die Abwesenheit einer physischen Überdachung, sondern der freie Zugang zur Versammlung; auch die Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) schützt virtuelle Kundgabemodalitäten; Telos: Bedeutung der Online-Kommunikation für die öffentliche Meinungsbildung spätestens seit Covid massiv gestiegen.
Zuerst sollte das Vorliegen eines ‚klassischen Eingriffs‘ geprüft werden; nur wenn ein Merkmal nicht erfüllt ist, sollte auf den ‚modernen Eingriffsbegriff‘ eingegangen werden (Siehe hierzu ausführlich das Prüfungsschema Freiheitsgrundrechte).
Eingriff = Jedes staatliche Handeln, das zur Beeinträchtigung des Schutzbereiches führt und nach dem …
Beispiele: Auflösungen; Verbote; Anmelde- / Erlaubnispflichten; Erschwerung des Zugangs zu einer Demonstration durch Behinderung von Anfahrten und unzumutbar schleppende vorbeugende Kontrollen; exzessive Observationen und Registrierungen der Teilnehmenden; Automatisierte Kennzeichenkontrolle auf Anfahrtswegen; Boykottaufruf via staatlicher Pressemitteilung; Flughafenverbot für die Flugblätter verteilende „Initiative gegen Abschiebungen" durch einen als Aktiengesellschaft betriebenen Flughafen im mehrheitlichen Eigentum der öffentlichen Hand
Abgrenzung Versammlungsfreiheit von der Meinungsfreiheit
Es existieren unterschiedliche Einschränkungsmöglichkeiten für Versammlungen unter freiem Himmel und solche in geschlossenen Räumen:
Unter freiem Himmel = Ein seitlich nicht abgeschirmter und daher einer unbestimmten Vielzahl von Personen frei zugänglicher Ort des allgemeinen Publikumsverkehrs (unabhängig vom Vorliegen einer Überdachung)
Art. 8 II GG enthält einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Grund für die einfachere Einschränkungsmöglichkeit ist das durch den unkontrollierbaren Zugang bedingte höhere Gefahrenpotential sowie die höhere Betroffenheit der Interessen Dritter.
Einschränkende Gesetze sind insb. §§ 14 ff. BVersG bzw. die Versammlungsgesetze der Länder; teilw. auch Normen des Polizei- oder Straßenverkehrsrechts.
Im Verwaltungsrecht gilt grds. die ‚Polizeifestigkeit‘ des Versammlungsrechts. Taugliche Rechtsgrundlage für gezielte und schwerpunktmäßige Eingriffe in eine Versammlung sind demzufolge (mit wenigen und umstrittenen Ausnahmen) nicht Normen des Polizei- und Ordnungsrechts, sondern nur die als lex specialis vorgehenden Normen des Versammlungsrechts.
Geschlossener Raum = Ein seitlich abgeschirmter, lediglich individualisierbaren Einzelpersonen zugänglicher Raum
z.B. Hinterzimmer einer Gaststätte; Vereinsheim; umzäuntes Gelände mit Einlasskontrollen
Der Wortlaut des Art. 8 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt für Versammlungen im geschlossenen Raum. Eingriffe in den vorbehaltslos gewährten Schutzbereich können daher nach h.M. aufgrund der sozialen Dimension der Grundrechte (nur) durch verfassungsimmanente Schranken in Form des kollidierenden Verfassungsrechts (insb. Grundrechte Dritter) gerechtfertigt werden.
(→ Ausführlich hierzu das Prüfungsschema Gesetzgebungsverfahren)
Legitimer Zweck
Geeignetheit
Das Gesetz muss geeignet sein, den Zweck wenigstens zu fördern.
Erforderlichkeit
Es existiert kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des Ziels. Insb. Verbot und Auflösung kommen daher nur als ultima ratio zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter vor unmittelbarer Gefährdung in Betracht; grds. vorrangig sind Auflagen / Beschränkungen.
Da die Versammlungsfreiheit die kollektive Meinungsfreiheit schützt, kommt nach e.A. auch hier die Wechselwirkungslehre zur Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) zur Anwendung (sodass insb. die Tatbestandsvoraussetzungen einschränkender Gesetze restriktiv auslegen sind).
Angemessenheit
Hier liegt in aller Regel der Schwerpunkt der Klausur. Dies sollte bei der Zeiteinteilung unbedingt berücksichtigt werden.
Die Intensität des Eingriffs muss in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel des Schutzes anderer Verfassungsgüter stehen. Dabei ist die grundlegende Bedeutung, die das BVerfG der Versammlungsfreiheit als unentbehrliches Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens beimisst, zu berücksichtigen.
Urteil oder Maßnahmen aufgrund des Gesetzes.