Prüfungsschema zur Anfechtung einer Willenserklärung wegen Inhalts- oder Erklärungsirrtums (§ 119 I BGB), wodurch diese als von Anfang an (ex tunc) nichtig anzusehen ist (§ 142 I BGB).
Die erfolgreiche Anfechtung einer Willenserklärung (WE) führt gem. § 142 I BGB grds. dazu, dass diese als von Anfang an (ex tunc) nichtig anzusehen ist. Die Prüfung erfolgt daher bei Ansprüchen üblicherweise unter dem Prüfungspunkt „Anspruch entstanden“. Da der Anspruch tatsächlich bis zur erfolgten Anfechtung bestanden hat, ist auch eine Prüfung unter dem Punkt „Anspruch nicht erloschen“ vertretbar.
Praktische Auswirkungen hat der Prüfungsstandort nicht. Sofern im Anschluss Kondiktionsansprüche geprüft werden, sollte aber im Einklang mit der Einordnung im ersten Fall eine condictio indebiti nach § 812 I 1 Alt. 1 BGB geprüft werden und in letzterem Fall eine condictio ob causam finitam nach § 812 I 2 Alt. 1 BGB.
Bei der Anfechtungserklärung (AnfErkl) handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige WE.
Bedingungsfeindlichkeit
Als Gestaltungserklärung ist die AnfErkl bedingungsfeindlich. Zulässig ist aber die Anfechtung unter einer sog. innerprozessualen Rechtsbedingung, bei der die Anfechtung - anders als § 158 BGB - für den Fall einer bestimmten rechtlichen Beurteilung (durch ein Gericht) vorgenommen wird. Bsp.: Anfechtung für den Fall, dass überhaupt ein Vertrag zu Stande gekommen ist.
Adressat
Die Erklärung erfolgt gegenüber dem Anfechtungsgegner. Dies ist grds. der Erklärungsempfänger, bei Verträgen der Vertragspartner.
Form
Die AnfErkl ist nicht formgebunden und muss den Begriff Anfechtung nicht enthalten. Sie muss aber zu erkennen geben, dass der Anfechtende die WE wegen Willensmängeln nicht gegen sich gelten lassen möchte.
Begründung (str., s. Problembox)
Ist die Angabe des Anfechtungsgrundes erforderlich?
h.M. BGH: (+) Ja
Der Anfechtende muss die der Anfechtung zugrunde liegenden Tatsachen nennen, sofern sich der Grund nicht bereits aus den Umständen ergibt oder dem Anfechtungsgegner bekannt ist.
(pro) Anderweitig ist der Anfechtungsgegner nicht in der Lage, die Berechtigung der Anfechtung zu überprüfen.
a.A. RG: (-) Nein
Die Anfechtung ist auch ohne Angabe von zugrunde liegenden Tatsachen wirksam.
(pro) Wortlaut: § 143 BGB nennt dieses Erfordernis nicht.
(pro) Systematik: Anderweitig macht der Gesetzgeber spezialgesetzliche Vorgaben zur Begründung (z.B. in §§ 573 III, 574 III BGB, § 102 BetrVG)
Anders als die Anfechtung nach § 119 II BGB wird eine Anfechtung nach § 119 I BGB, § 120 BGB oder § 123 BGB nicht durch den Vorrang des Gewährleistungsrechts verdrängt.
Im Rahmen der Irrtumsanfechtung ist der tatsächliche Sachverhalt, d.h. der objektive Inhalt einer Willenserklärung durch Auslegung (siehe Übersicht: Auslegung von Willenserklärungen) zu ermitteln.
Irrtum = das Auseinanderfallen von vorgestelltem und tatsächlichem Sachverhalt
Inhaltsirrtum = Erklärende Person gibt eine Erklärung ab und irrt dabei über deren Inhalt.
Formel: 'Er weiß, was er sagt, aber nicht was er damit sagt.'
Beispiele: Verwendung eines Begriffs, über deren Bedeutung der Erklärende irrt; Unterschreiben eines Dokuments, über deren Inhalt sich der Erklärende eine falsche Vorstellung macht; aber nicht, wenn der Erklärende sich gar keine Vorstellung macht
Sonderfall: beiderseitiger Inhaltsirrtum (falsa demonstratio non nocet)
Besteht die Möglichkeit der Anfechtung beim verdeckten Kalkulationsirrtum?
Bsp.: Architekt verrechnet sich bei Erstellung eines Angebots und legt nur Ergebnis der Berechnung mit dem Angebot offen (nicht die verdeckt bleibende Berechnung selbst)
h.M.: (-) Nein
Es handelt sich um einen unbeachtlichen Motivirrtum
a.A.: (+) Ja
Beispiel ist vergleichbar mit Vertippen oder Versprechen, daher Anfechtung analog § 119 I 1 Alt. 1 BGB möglich
Besteht die Möglichkeit der Anfechtung beim offener Kalkulationsirrtum?
Bsp.: Architekt verrechnet sich bei Erstellung eines Angebots und legt die Berechnung mit dem Angebot offen
→ Zunächst ist der Inhalt des Vertrags durch Auslegung zu ermitteln; wenn die Erklärung widersprüchlich, liegt bereits keine wirksame WE vor (‚Perplexität‘)
e.A. RG: (+) Ja
Die offene Kalkulation ist Teil der Erklärung; Geschäftspartner nicht schutzwürdig; Anfechtung analog § 119 I Alt. 1 BGB oder analog § 119 II BGB
h.M. BGH: (-) Nein:
Es handelt sich um einen unbeachtlichen Motivirrtum; ausreichender Schutz der Erklärenden durch c.i.c., § 313 BGB oder § 242 BGB
Erklärungsirrtum = Der Erklärende wollte eine Erklärung des Inhalts nicht abgeben.
Bsp.: Verschreiben, versprechen
Der Inhalts- oder Erklärungsirrtum muss kausal für die Abgabe der WE gewesen sein.
Die Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn der Anfechtende das Rechtsgeschäft in Kenntnis aller Anfechtungsgründe bestätigt hat. Strittig ist, ob die Bestätigung zugangsbedürftig ist.
Die Frist beginnt mit Kenntnis der Tatsachen, die jeweils zur Anfechtung berechtigen; fahrlässige Unkenntnis genügt nach h.M. nicht.
Beachte die Möglichkeit der Zurückweisung einseitiger Rechtsgeschäfte gem. § 174 BGB, wenn die Anfechtung durch einen bevollmächtigten Stellvertreter erfolgt; eine erneute Anfechtung ist dann i.d.R. nicht mehr unverzüglich.
Für die Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung der AnfErkl (§ 121 I 2 BGB); Wirksamwerden aber erst mit Zugang; geht die AnfErkl nach Absendung verloren, muss der Erklärende sie unverzüglich erneut absenden.
Auch bei Unkenntnis vom Anfechtungsgrund ist die Anfechtung 10 Jahre nach Abgabe der ursprünglichen Erklärung ausgeschlossen.
Bei bereits vollzogenen Arbeits- oder Gesellschaftsverträgen tritt die Nichtigkeit grds. erst mit der Anfechtungserklärung ein (ex nunc), da eine Rückabwicklung regelmäßig mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist; dies gilt nicht, wenn die Rückabwicklung einfach möglich ist oder vorrangige Interessen wie der Schutz Minderjähriger betroffen sind.
Bei Teilnichtigkeit richten sich die Folgen nach § 139 BGB.
Sofern die Anfechtung zur Nichtigkeit eines Verpflichtungsgeschäfts führt, bleibt das Verfügungsgeschäft hiervon zunächst unberührt (Trennungs- & Abstraktionsprinzip). Eine Rückabwicklung erfolgt i.d.R. über §§ 812 ff. BGB.
Der Erklärungsempfänger ist aber nicht besser zu stellen, als er bei Wirksamkeit der WE stünde (Begrenzung auf das positive Interesse) (§ 122 I BGB).
Ausschluss des Schadensersatzes, wenn der Geschädigte die zur Anfechtung berechtigenden Tatsachen kannte oder durch Fahrlässigkeit nicht kannte (kennen musste) (§ 122 II BGB).